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Beitrag vom 02.06.2012
Meine Freiheit, deine Freiheit - ein Dokumentarfilm von Diana Näcke. Kinostart: 31. Mai 2012
Sonja Baude
Freiheit ist ein großes Wort. Sie meint die Möglichkeit, so zu handeln, wie wir wollen. Und eben diese Möglichkeit, so lehrt der Film, ist ein Konstrukt, zu dem nicht alle Menschen Zugang haben.
Kübra steht am offenen Fenster eines fahrenden Zuges, ihre Haare wehen im Wind, sie lacht, wirkt unbeschwert und frei. Sie kann die Luft riechen, und mit den Gerüchen erinnert sie glückliche Momente ihrer Kindheit in der Türkei. So voll von Hoffnung ist dieses Bild und so gern würden wir ihm für immer Glauben schenken.
Ortswechsel: Frauengefängnis Lichtenberg, Hauptsitz der Justizvollzugsanstalt für Frauen in Berlin mit rund 100 Haftplätzen. Hier sitzt Kübra auf dem Boden ihrer Zelle kurz vor ihrer Entlassung nach viereinhalb Jahren des Eingesperrtseins. Sie ist Anfang zwanzig und Berlins einzige Intensivstraftäterin. Die Liste ihrer Gewalttaten ist lang. Zeitgleich sitzt auch die vierzigjährige Salema im Knast. Nachdem ihre Eltern im äthiopischen Bürgerkrieg umgebracht worden waren, kam sie als Kind nach Deutschland, wo sie nie einen sicheren Ort für sich finden konnte. Seit ihrem siebzehnten Lebensjahr ist sie immer wieder im Gefängnis gewesen. Wenn sie gemeinsam mit ihrer Drogenberaterin in einer winzigen Zelle tanzt, ist sie ganz bei sich und strahlt, strahlt Lebenskraft und Frohsinn aus.
Über einen Zeitraum von drei Jahren hat die Regisseurin Diana Näcke Kübra und Salema mit der Kamera begleitet, im Gefängnis und in der Zeit danach.
Diese beiden Frauen stecken seit früher Kindheit in einem Leben, das gekennzeichnet ist von Gewalt, Drogen und Schutzlosigkeit. Kübra ist jung, klug, schön und radikal. Zur gleichen Zeit ist sie wütend, brutal und ohne Halt. Salema ist nicht mehr ganz so jung, klug, liebevoll und verschmitzt. Zur gleichen Zeit ist sie verzweifelt, hilflos und unendlich traurig. Gemeinsam ist den beiden Frauen eine unermessliche Wut, die sie selbst wüten lässt. Dabei evozieren sie Furcht und Mitleid und Symphatie im gleichermaßen.
Befragt nach ihrer Kindheit weicht Kübra aus: "Man kann sich nicht an alles erinnern, [...] Kindheit ist einfach spielen und Spaß haben". Dass dies nicht die ganze Wahrheit ist, begreifen wir, wenn sie mit Blick auf das Verhältnis zu ihrem Vater beschwörend wiederholt: "Ich weiß, ich bin sein Lieblingskind." Eine verzweifelte Sehnsucht, die wohl bislang unerfüllt geblieben ist und womöglich bleiben wird.
Diana Näcke zeigt sämtliche Widersprüchlichkeiten in den Biographien dieser beiden Frauen auf, lässt sie detailliert und ehrlich erzählen. Das Anliegen der Regisseurin ist es, sie zu verstehen, ohne zu werten. Widersprüchlich und absurd ist auch das ´System Strafvollzug´, in dem sie verhaftet sind. Das zeigt die Regisseurin mit ihrem dritten Protagonisten, dem Gefängnisleiter der JVA Lichtenberg, Matthias Blümel. Ein unaufgeregter, liebenswürdiger Mann, der sich einer eindeutigen Zuordnung jedoch komplett entzieht. Trotz oder gerade wegen seiner Funktion ist ihm der Glaube an die Sinnhaftigkeit des Strafvollzuges verloren gegangen. Ihn, den "Hippie", mögen die meisten Frauen, auch wenn im Gefängnis, wie Kübra sagt, alles von diesem Mann abhängt, er ist der Mächtigste. Er ist auch derjenige, der immer dann, wenn Kübra ausrastet, den Beschluss unterzeichnet, sie in den "besonders gesicherten Haftraum" zu verlegen, ein menschenunwürdiger Ort, von der Decke bis zum Boden gekachelt, mit einer ca. 60cm breiten Pritsche, an deren Seiten Fesselungsvorrichtungen angebracht sind. "Diese ekelhafte Macht" sagt Salema. Welche Macht genau sie meint, die der Mächtigen, der Drogen oder die der ausweglosen Umstände, bleibt offen.
Beim Ortstermin in der JVA Lichtenberg an einem Nachmittag Ende Mai, zwei Tage vor dem Kinostart, sagt Blümle im Gespäch: "Sie könnten alle Frauen rauslassen, dann würde nichts passieren." Stattdessen aber habe die Gesellschaft sich für den Strafvollzug entschieden. Und am Ende dieses Vollzugs steht als Ziel die Resozialisierung der gefangenen Frauen, ihre Wiedereingliederung in die Gesellschaft, ohne dass sie erneut mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Welch ein heeres und konstruiertes Ziel das ist und wie wenig es unter Umständen mit der Wirklichkeit zu tun hat, auch das zeigt dieser großartige Film, der keinen Moment Gefahr läuft, Klischees zu installieren oder leichtfertig zu politisieren.
Die Freiheit, die auf die beiden Frauen nach ihrer Entlassung wartet, ist erschreckend düster. Kübra und Salema sind gefangen in ihrer Drogenabhängigkeit. Kübras Entzugsversuch scheitert. Sie bricht ihre ersehnte Therapie vorzeitig ab. Salema ihrerseits wird am Ende der Haftzeit nicht ausreichend darin unterstützt, einen betreuten Wohnplatz zu finden. Sie lebt auf der Straße, gebeutelt von Alkohol und Heroin. In der vielleicht erschütterndsten Szene des Filmes fasst sie ihren Schmerz und ihre Wut und Trauer unter Schluchzen zusammen: "da hast du deine beschissene Freiheit [...]Diana hilf mir, ich will weg von dieser Welt."
Am Nachmittag, zwei Tage vor Kinostart, gab es eine Preview im Gemeinschaftssaal der JVA Lichtenberg. Aufmerksam sahen die Frauen zu. Redebedarf gab es im Anschluss vorerst nicht. Auf dem Treppenabsatz antwortete eine der gefangenen Frauen auf die Frage, wie sie den Film einschätze: "Ja, das ist die Realität, nicht für alle, aber für viele ist es so." Interessanterweise hat, wie zu erfahren war, ein Teil der Beamten der JVA Lichtenberg die Filmvorführung zu verhindern versucht unter dem Vorwand, es würde ein falsches Bild entstehen. Herr Blümel aber begrüßte das Screening und setzte es durch.
Im Anschluss an die deutsche Filmpremiere an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg Platz am 23. Mai 2012 kamen beide Protagonistinnen auf die Bühne. Sie sind noch auf der Welt und wurden lange beklatscht und in diesem Applaus lag auch ein hoffnungsvoller Zuspruch, weiter anzukämpfen gegen die Zumutungen des Lebens, für eine bessere Zukunft.
AVIVA-Tipp: Das beeindruckende Dokumentarfilmdebut Meine Freiheit, deine Freiheit von Diana Näcke portraitiert zwei Frauen, die einen großen Teil ihres Lebens im Gefängnis verbracht haben. Der Film beleuchtet unvoreingenommen ihre komplexen Lebenssituationen und findet, auch Dank der Cutterin Inge Schneider, zu einer klugen Dramaturgie, die den rasanten Wechsel von Hoffnung und Ausweglosigkeit vorführt und eindeutige Zuweisungen von Richtig und Falsch, von Gut und Böse verneint. Ähnlich wie in der griechischen Tragödie begegnen wir Menschen, die schuldlos schuldig geworden sind und sich diesem Schicksal nicht zu entziehen vermögen. Am Ende des Films steht eine große Erschütterung, jedoch bleibt die Katharsis aus, denn diese Wirklichkeit ist wirklich.
Meine Freiheit, deine Freiheit
Deutschland
Buch und Regie: Diana Näcke
Kamera: Diana Näcke / Susanne Schüle / Roger von Heereman
Montage: Inge Schneider
Verleih: Edition Salzgeber
Lauflänge: 84 Minuten
Kinostart: 31. Mai 2012
Kinos und Termine in Berlin:
ACUD Kino, Veteranenstraße 21, Berlin-Mitte
So 3.6. 18:00 Uhr, Mo 4.6. 18:00 Uhr, Di 5.6. 18:00 Uhr, Mi 6.6. 18:00 Uhr
Kino Zukunft am Ostkreuz, Laskerstr. 5, Berlin Friedrichshain
So 3.6. 18:00 Uhr, Mo 4.6. 18:00 Uhr, Di 5.6. 18:00 Uhr, Mi 6.6. 19:45 Uhr (am 6.6. in Anwesenheit der Regisseurin)
EVA-Lichtspiele, Blissestrasse 18, Berlin Wilmersdorf
So 03.06. und 10.06. jeweils um 11.00 (am 3.6. in Anwesenheit der Regisseurin und einer Protagonistin des Films)
Weitere Infos unter: www.diananaecke.de